Junge Frau blickt Nachdenklich aus dem Fenster

Was zunächst gewaltig zehrt oder schier unsagbar peinlich ist, das kann - endlich ausgesprochen - ungeheure Lebenskraft freisetzen, sagt Susanne Breit-Keßler.

Bild: gettyimages/fizkes

Wort zum Buß- und Bettag

Wahre Lebenskünstler

Wenn sich etwas zum Besseren ändern soll, braucht das Zeit, schreibt die ehemalige Münchner Regionalbischöfin, Susanne Breit-Keßler in Ihrem Wort zum Buß- und Bettag. Deshalb sei dieser Feiertag für den Einzelnen genauso notwendig wie für die Gesellschaft.

Heutzutage wird schnell jemand öffentlich niedergemacht. Ohne lange zu fragen. Mannschaft nicht zum Sieg geführt? Traineraufgaben nicht erfüllt? Versager. Genauso wie der Spieler, der die besten Chancen vermasselt hat. Film gefloppt, Rolle schlecht gespielt? Komplett daneben. „Die da oben“, Politiker und Politikerinnen, taugen eh nichts. Alles Fehlentscheidungen, ewiges Zurückrudern. Die sollten besser in Sack und Asche gehen.

Mal angenommen, das eine oder andere würde gelegentlich stimmen, wenigstens teilweise, so wie unsereins ja auch immer wieder Fehler macht und kräftig scheitert: Es ist menschlicher, barmherziger, anderen und sich selbst Zeit zu lassen für die notwendige Besinnung. Dafür, das Bisherige zu überprüfen, gegebenenfalls zu korrigieren und sich zu entschuldigen, wo das nötig ist. Das Recht auf Besinnung hat jeder und jede.

Gedanken zum Buß- ud Bettag von Steve Kenedy Henkel

Neben den verbalen Hinrichtungen gibt es wenig sinnvolle Versuche abzuschwächen. Alles halb so wild, echt nicht so schlimm, mach‘ dir keinen Kopf, Schwamm drüber, du bist doch nicht schuld … Das kann man sich selber und anderen sagen - nur: Das, was man an Falschem oder Üblem gedacht und getan hat, das, was man an Schuld auf sich geladen hat, wird man so nicht los. Niemals.

Umkehr braucht Zeit und Raum

Wenn sich etwas zum Besseren ändern soll, braucht das Zeit. Buße und Umkehr verlangen nach dem richtigen Ort und genügend Raum. Jemand, dem blitzartig und radikal eine drübergezogen wird, ob er Trainer ist, Politikerin oder Schauspielerin, Vater oder beste Freundin, hat keine Chance mehr, sich zu besinnen. Mit dem Rücken an der Wand kommen weder gute Gefühle auf, noch lassen sich konstruktive Gedanken und richtige Worte finden.

Der Buß- und Bettag, ein Feiertag, der für den Einzelnen genauso notwendig ist wie für die ganze Gesellschaft, der gibt ein ruhiges Maß vor. „Contritio“ ist als erstes angesagt, darauf wies Luther nachdrücklich hin. Reue. Wer etwas bereut, der muss zuvor erkennen, was er falsch gemacht hat. Das geht nicht von jetzt auf gleich, soll die Reue eine wahrhaftige sein. Eine, die anhält und Veränderung bewirkt.

Zerstörerische Taten und Worte

Nach der Reue kommt laut Luther die „Confessio“, das Bekenntnis dessen, woran man gescheitert ist - was man Übles gedacht, gesagt oder getan hat. Womit man sich selbst und anderen Schaden zugefügt, sich und sie verletzt hat. Nicht nur Handlungen, auch giftige Gedanken und abschätzige Worte sind zerstörerisch. Persönlich, privat zu beichten hat therapeutische, psycho-hygienische Funktion - wenn es freiwillig geschieht.

Es ist ein Kraftakt, einem anderen gegenüber laut auszusprechen, was man auf dem Kerbholz hat, was einen umtreibt oder „betrübt und ängstigt“, wie Luther sagt. Aber was zunächst gewaltig zehrt oder schier unsagbar peinlich ist, das kann - endlich ausgesprochen - ungeheure Lebenskraft freisetzen. An erster Stelle steht nicht die Christenpflicht zur Zerknirschung, sondern - bei weit reichender Selbsterkenntnis - die Gewissheit der Vergebung.

Lasten abladen können

Was man aufzuarbeiten hat an Defiziten in der eigenen Lebensgeschichte, womit immer man in der Gegenwart zu kämpfen hat - die Gewissheit, Lasten abladen und von Neuem beginnen zu dürfen - das ist eine Basis, auf der zuversichtliches Leben möglich ist. Der Buß- und Bettag erinnert daran, dass eine Änderung der eigenen Person, ein inneres Wachstum ebenso möglich ist wie die Veränderung äußerer, unerfreulicher gesellschaftlicher Zustände.

Im Alten Testament ist die Rede davon, dass Menschen in Sack und Asche gehen, dann, wenn sie tiefe Trauer empfinden oder Reue über das, was sie getan haben. Manchmal kommt beides zusammen. Dann spürt man das schmerzliche Bewusstsein, wirklich weit gefehlt, an sich und anderen vorbei gelebt zu haben. Glücklich, selig der Mensch, der noch Jammer empfindet über fremdes und eigenes Scheitern, der sensibel und zart, zugleich wahrhaft unbeirrt nach neuen Möglichkeiten des Daseins sucht. Er ist der wahre Lebenskünstler.

Susanne Breit-Keßler, Bild: © Anke Roith-Seidel

Bild: Anke Roith-Seidel

Susanne Breit-Keßler

Susanne Breit-Keßler ist die frühere Regionalbischöfin von München und Oberbayern sowie aktuelles Mitglied der Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung.

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14.11.2022
Susanne Breit-Keßler