Tuba Reflektion

Ein ungewöhnliches Jubiläum: Vor 100 Jahren wurde die erste Kirchenverfassung der ELKB verabschiedet, vor knapp 50 Jahren die zweite.

Bild: ELKB / Breit

Jubiläum

100 Jahre Kirchenverfassung

Vor 100 Jahren – am 16. September 1920 – wurde die erste Verfassung der ELKB verabschiedet. Oberkirchenrat Hans-Peter Hübner erklärt, warum sie so wichtig war und wie sie sich entwickelt hat.

Herr Oberkirchenrat Hübner, was war das Besondere an der Verfassung, die vor 100 Jahren verabschiedet wurde?

Hans-Peter Hübner: Die Kirchenverfassung von 1920 war die erste Verfassungsurkunde, die sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern selbst durch die ein Jahr vorher gebildete verfassungsgebende Synode gegeben hat.  In bewundernswert kurzer Vorbereitungszeit von gut eineinhalb Jahren war es gelungen, in 70 prägnanten Artikeln den körperschaftliche Aufbau der Landeskirche mit ihren damals ca. 1,5 Millionen Mitgliedern, ihre Verwaltungs- und Leitungsstrukturen sowie ihr Verhältnis zum Staat und zu anderen evangelischen Kirchen zu beschreiben und in einer Urkunde zusammenzufassen. Dies geschah in Konsequenz der durch die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 endgültig vollzogenen organisatorischen Trennung von Staat und Kirche und des darin gewährleisteten Rechts der Religionsgemeinschaften, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Rechts nun eigenständig ordnen und verwalten zu können. Demgegenüber waren die beiden Vorläuferinnen der Kirchenverfassung von 1920,  die Konsistorialordnung vom 8. September 1809 und das Protestantenedikt vom 26. Mai 1818, noch von dem römisch-katholischen König Max I. Joseph in seiner Eigenschaft als „oberster Bischof“ (summus episcopus) der „Protestantischen Gesamt-Gemeinde in dem Königreiche“, wie unsere Landeskirche darin bezeichnet wurde, erlassen worden.

Leitung: kollegial und bischöflich

Grundlegend neu war, dass die Leitung der Landeskirche nicht mehr allein gremienmäßig und kollegial, sondern gewissermaßen zugleich auch persönlich, geistlich- bischöflich ausgestaltet worden ist; dies war ein zentrales Anliegen der verfassungsgebenden Generalsynode. Dem entsprechend sind das Gebiet der Landeskirche in zunächst drei Kirchenkreise (Ansbach, Bayreuth, München) mit einem „Kreisdekan“ an der Spitze eingeteilt und das Amt des Kirchenpräsidenten geschaffen worden. Dem Kirchenpräsidenten oblag – wie heute - gemeinsam mit Landessynode, Landessynodalausschuss und Landeskirchenrat die Leitung der Landeskirche. Dabei löste die Landessynode die frühere, auf das Protestantenedikt zurückgehende Generalsynode ab - freilich mit jetzt viel weitergehenden Kompetenzen, von denen die wichtigste das Gesetzgebungsrecht war, welches früher allein beim Staat gelegen hatte. Der Landessynodalausschuss ging aus dem 1887 eingeführten Generalausschuss hervor. Der Landeskirchenrat trat als oberste Behörde für die Verwaltung der Landeskirche an die Stelle des vormaligen Protestantischen Oberkonsistoriums.  Ihm gehörten unter dem Vorsitz des Kirchenpräsidenten die drei Kreisdekane sowie zunächst jeweils drei weitere geistliche und weltliche Mitglieder an. Unbeschadet dessen, dass die verfassungsgebende Synode die – dann aber 1933 eingeführte – Bezeichnung „Landesbischof“ noch ausdrücklich abgelehnt hatte, ist das Amt des Kirchenpräsidenten, seinerzeit als das „kraftvollste und inhaltsreichste evangelische Bischofsamt in Deutschland“ (Paul Schoen) bezeichnet worden. Sein erster und einziger Inhaber war der frühere Münchner Dekan und Präsident des Oberkonsistoriums D. Friedrich Veit, der schon lange vor der „Machtergreifung“ deutlich und weitsichtig vor den Irrwegen der nationalsozialistischen Bewegung gewarnt hatte und deshalb sein Amt vorzeitig aufgeben musste.

Von der Kirchenverfassung von 1971 ist zu Recht festgestellt worden, dass sie kein revolutionäres Werk, vielmehr ihre konservative Grundhaltung unverkennbar sei. Jedenfalls sind der Wandel der politischen Verhältnisse in Deutschland, insbesondere die Auf- und Umbrüche der 1968er Jahre ohne erkennbaren Einfluss auf die bereits 1966 eingeleitete Verfassungsreform geblieben. Deren ursprüngliche Zielsetzung bestand vor allem darin, abgeschlossene und sich abzeichnende notwendige Fortentwicklungen im Recht der Kirchengemeinden, Dekanatsbezirke, Pfarrstellenbesetzung und landeskirchlichen Leitung mit der geschriebenen Verfassung in Einklang zu bringen.

Qualitätssteigernde Weiterentwicklung

Die politische und gesellschaftliche Verfasstheit widerzuspiegeln, ist andererseits aber auch gewiss nicht die primäre Aufgabe einer Kirchenverfassung. Ungleich wesentlicher ist, dass eine Kirchenverfassung  nach Innen und nach Außen profiliert Auftrag, Selbstverständnis und Aufgaben der Kirche zum Ausdruck bringt, im Sinne lutherischer Kirche insbesondere der besonderen Bedeutung des gemeindlichen Lebens und dem allgemeinen Priestertum der Getauften im Miteinander und Gegenüber zum  ordinationsgebundenen (Pfarr-)Amt angemessen Rechnung trägt und so aktive Beteiligung ermöglicht, unter diesen theologischen Zielvorgaben Grundlegendes zur Organisation und Funktionsweise der Kirche in ihren verschiedenen Ebenen und Arbeitsformen regelt und sich offen zeigt für künftige Entwicklungen, die sich aus der zeit- und situationsgerechten Wahrnehmung des Auftrags der Kirche ergeben. Gerade unter diesen Gesichtspunkten stellt sich die unter dem 20. November 1971 von Landesbischof D. Hermann Dietzfelbinger ausgefertigte neue Kirchenverfassung als eine deutlich qualitätssteigernde Fortentwicklung der Kirchenverfassung von 1920 dar, die demgegenüber doch noch eher als ein reines Organisationsstatut zu charakterisieren ist. Neben der viel intensiveren theologischen Fundierung des Verfassungstextes, die sich insbesondere im Grundartikel, in den allgemeinen Bestimmungen, im Abschnitt über das (in verschiedene Dienste gegliederte) Amt der Kirche und in der Beschreibung des Bischofsamtes zeigt, und den bereits bezeichneten Änderungen ist hervorzuheben, dass erstmals ausdrücklich auch die Einrichtungen und Dienste als „besondere Arbeitsbereiche und Arbeitsformen“, in denen „Gemeinde Jesu Christi … sich auch“ verwirklicht, auch verfassungsrechtlich in den Blick genommen wurden.

1993-1998 umfassende Evaluation

Zwischenzeitlich eingetretene politisch-gesellschaftliche Veränderungen und das kirchliche Bemühen um „Zeitgenossenschaft“ waren indes mit dafür maßgebend, dass die Kirchenverfassung in den Jahren 1993 bis 1998 einer umfassenden Evaluation unterzogen wurde. Diese führte 1995 zur Einfügung des ursprünglichen Art. 10 a über die Gleichstellung von Frauen und Männern und 1999 zu einer größeren Verfassungsnovelle. Damit verbunden waren u. a. im neu formulierten Abschnitt über die Kirchenmitgliedschaft die ausdrückliche Einladung von Menschen auf dem Weg zur Taufe zur Mitarbeit in der Kirche, die Befristung der Amtszeiten des Landesbischofs und der weiteren Mitglieder des Landeskirchenrates, die Einführung der – auf den jeweiligen Kirchenkreis beschränkten (!) – Amtsbezeichnung „Regionalbischof“ bzw. „Regionalbischöfin“ und die Entsendung von Jugenddelegierten in die Landessynode sowie die vollständige Fassung des Verfassungstextes in „geschlechtergerechter Sprache“

Dass sie gut die Balance hält zwischen geistlich-theologischer Durchdringung und rechtlicher Klarheit und dass sie bis heute nicht der Versuchung erlegen ist, zu viele Einzelheiten zu regeln, sondern sich im Wesentlichen darauf beschränkt, den Rahmen zu definieren, der dann durch einfache Kirchengesetze und Verordnungen ausgefüllt wird. Dadurch bleibt die Kirchenverfassung kompatibel zu Veränderungsprozessen und ist deshalb auch heute noch auf der Höhe der Zeit.

In Art. 2 ist bestimmt, dass die Landeskirche, ihre Kirchengemeinden, Dekanatsbezirke, Einrichtungen und Dienste sowie ihre sonstigen Institutionen die zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben notwendige Eigenverantwortung und Freiheit haben, allerdings eine „innere und äußere Einheit“ bilden. Nach meinem Verständnis ist das eine der ganz zentralen Verfassungsbestimmungen, auf die es künftig vielleicht sogar noch mehr als bisher ankommt.

Eigenverantwortung der Gemeinden und Dekanate stärken

Es gilt, die Eigenverantwortung der Kirchengemeinden und Dekanatsbezirke weiter zu stärken und anderswo gut machbare Aufgaben, die bisher noch in der landeskirchenamtlichen „Zentrale“ erledigt werden, insbesondere auch auf regionale Verwaltungs- und inhaltliche Kompetenzzentren zu dezentralisieren. Dies setzt einerseits eine entsprechende Verlagerung von Ressourcen voraus, andererseits aber, dass Eigenverantwortung vor Ort tatsächlich auch konsequent wahrgenommen wird und Hilferufe nach „München“ dann auf ganz außergewöhnliche Situationen beschränkt werden.

Arbeitsteilige Dienstgemeinschaft

Gleichermaßen kommt es neben einem allgemeinverbindlichen rechtlichen Ordnungsrahmen auf allen Ebenen auf das Bewusstsein und die Haltung der kirchlichen „inneren und äußeren Einheit“ an. Mit dieser Verfassungsformulierung wird zum Ausdruck gebracht, dass die verschiedenen Ebenen und Arbeitsbereiche nicht in einem hierarchischen Verhältnis von „unten“ und „oben“, sondern auch vertikal in einer Dienstgemeinschaft im Sinne der 4. These der Barmer Theologischen Erklärung stehen, arbeitsteilig und in gegenseitiger Verantwortung den „der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienst“ auszuüben. Aus einem solchen Verständnis der eigenen Verantwortung und ihrer Einordnung werden sich nicht nur strittige Sachfragen wie z. B. die angemessene Verteilung rückläufiger personeller und finanzieller Ressourcen konstruktiv lösen lassen, sondern auch selbstverständlich Bereitschaft und Lust zum vertrauensvollen Zusammenwirken und strukturierter Zusammenarbeit in unterschiedlichen Kontexten erwachsen. Und eine so verfasste und authentisch handelnde Gemeinschaft wird auch für bisher Außenstehende attraktiv sein und in das Gemeinwesen ausstrahlen. In dieser Hinsicht sehe ich allerdings in der Verfassungswirklichkeit durchaus noch Entwicklungsmöglichkeiten.

Der Grundartikel der Kirchenverfassung skizziert den ewigen Grund, nämlich die Heilige Schrift und die Bekenntnisgrundlagen, auf dem die Kirchenverfassung und damit die Landeskirche mit allen ihren Mitgliedern und Institutionen stehen. Er ist erstmalig 2012 ergänzt worden, um die Herkunft der Kirche aus dem biblischen Volk Israel und dessen bleibende Erwählung zu bezeugen. Die 2017 erfolgte Ergänzung um die Barmer Theologische Erklärung war nach meinem Verständnis gewissermaßen nur noch eine Formsache; denn unsere Kirchenverfassung ist von Anfang an in entscheidenden Stellen, z. B. im Verständnis des Dienstes, der Ämter und des Rechts in der Kirche, inhaltlich durch die Erkenntnisse von Barmen geprägt gewesen. Beide Ergänzungen des Textes des Grundartikels haben übrigens den Bekenntnisstand der Landeskirche nicht erweitert oder sonst substantiell verändert, sondern im Grunde nur Klarstellungen gebracht. Weitere solcher Ergänzungen des Grundartikels sind nicht absehbar.

Aktualisierungen in einzelnen Abschnitten der Verfassung denkbar

Demgegenüber könnte ich mir vorstellen, dass im Fortgang und in der Umsetzung der Prozesse „Profil & Konzentration“ und „Miteinander der Berufsgruppen“ Aktualisierungen in einzelnen Abschnitten der Verfassung hilfreich sein könnten, um wesentliche Leitgedanken insbesondere der Kooperation, der Regionalisierung, der Dezentralisierung zu unterstützen. Insbesondere wäre in Aufnahme einer Eingabe aus der letzten Synodalwahlperiode zu erwägen, wie die Verantwortung aller kirchlichen Ebenen für den Schutz der Menschenwürde und die Bewahrung der Schöpfung in den betreffenden Bestimmungen noch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden kann.

Neue Kirchenverfassung?

Ob sich daraus zu gegebener Zeit das Interesse an einer insgesamt neuen Kirchenverfassung ergibt, ist nicht auszuschließen. Aufgrund der flexiblen, veränderungsoffenen Grundanlage unserer geltenden Kirchenverfassung halte ich das aber nicht für zwingend erforderlich. Die Erarbeitung einer ganz neuen Verfassung bietet gewiss die Chance, in einem strukturierten Prozess hohe Aufmerksamkeit und breite Beteiligung für die Klärung kirchlicher Gestaltungsfragen zu erreichen; sie ist erfahrungsgemäß aber auch sehr zeitintensiv und kräftezehrend. Abgesehen darf man die Möglichkeiten einer Kirchenverfassung als Impulsgeberin für das kirchliche Leben der Zukunft auch nicht überschätzen. Erweckung und Erneuerung sind ein Geschenk des Heiligen Geistes. Solche Wirkungen dürften aber von einem von noch so vielen klugen Menschen sorgfältig ausgearbeiteten und noch so vielen engagierten Gremien leidenschaftlich diskutierten Verfassungstext allein nicht zu erwarten sein.

Mit dem 1977 und 1985 in zwei Auflagen erschienenen, längst vergriffenen Werk der vormaligen Direktoren der Landeskirchenstelle, Wilhelm von Ammon und Reinhard Rusam, stand für die ursprüngliche Fassung der Kirchenverfassung eine gleichermaßen dem Bedarf der Praxis von Kirchenleitung und -verwaltung wie dem Interesse der kirchenrechtlichen und der theologischen Wissenschaft dienende, sehr solide und kompakte Kommentierung zur Verfügung. Diese möchte ich gerne fortführen und vertiefen. Gerade in den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass allgemein nachlesbare aktuelle Erläuterungen des Verfassungstextes durchaus hilfreich und nötig sind. Ganz besonders geht es mir darum, die strukturellen Übereinstimmungen mit einer staatlichen Verfassung als Grundordnung einer politisch organisierten Gemeinschaft, aber auch die Besonderheit einer kirchlichen Verfassung sichtbar zu machen. Dieses Proprium sehe ich ganz im Sinne der 3. These der Barmer Theologischen Erklärung und des Grundartikels vor allem darin, dass eine Kirchenverfassung und sonstiges kirchliches Recht dem der Kirche gegebenen Auftrag, Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen, zu dienen hat und ihre Gestaltung nicht dem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden säkular-gesellschaftlichen und politischen Interessen, Moden und Überzeugungen überlassen werden darf.

Eine weitere Besonderheit der Kirchenverfassung von 1920 ist, dass sie nur von Männern beschlossen worden ist. Denn das kirchliche Wahlgesetz von 1919 hatte das aktive und passive Frauenwahlrecht zwar auf Gemeindeebene eingeführt, Frauen bedauerlicherweise aber für die Landessynode nur die Wahlberechtigung, nicht aber die Wählbarkeit zugestanden; erst 1958 sollten Frauen auch das passive Wahlrecht für die Landessynode erhalten.

Oberkirchenrat Prof. Dr. jur. Hans-Peter Hübner, Bild: © ELKB

Bild: ELKB

Prof. Dr. Hans-Peter Hübner

Oberkirchenrat Hans-Peter Hübner ist Jurist und ist Leiter der Abteilung E ( Gemeinden und Kirchensteuer) im Landeskirchenamt.

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14.09.2020
ELKB

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