Oberkirchenrat Stefan Blumtritt

In dem epd-Gespräch erläutert Oberkirchenrat Stefan Blumtritt, der in der evangelischen Landeskirche für die „Gesellschaftlichen Dienste“ zuständig ist, dass die Kirche nicht als „Beamtenkirche“, sondern nur als flexible Organisation eine echte Zukunftsch

Bild: ELKB

Sommerinterview

"Die Kirche muss zu einem großen Netzwerk werden"

Die bayerische Landeskirche steht inmitten eines umfassende Reformprozesses, mit dem sie sich auf allen Ebenen neu aufstellen will. Dabei ist das Ziel, wie die Kirche neue Zugänge zu den Menschen findet. Oberkirchenrat Stefan Blumtritt im epd-Gespräch.

Die bayerische Landeskirche ist im Umbruch und will sich mit umfassenden Reformprogrammen neu aufstellen. Dabei stehen jedoch eher die Pfarrerinnen und Pfarrer im Mittelpunkt, die Diakonie scheint kaum vorzukommen. Wäre da nicht ein fundamentaler Wandel nötig?
Über die letzten Jahrzehnte haben wir in der Tat ein pfarrerzentriertes Bild der Kirche gepflegt, weshalb beispielsweise bei Ausschreibungen von Pfarrstellen die Diakonie kaum vorkommt. In der Urkirche war es anders. Die Apostelgeschichte berichtet, dass schon in der ersten Gemeinde die Bedürftigen versorgt wurden. Wir müssen unbedingt in diese Richtung denken, denn die Diakonie ist der Bereich unserer Kirche, der auch in Zukunft in der Fläche und in der Gesellschaft präsent sein wird.

Woran liegt das?
In der Diakonie gibt es viele fremdfinanzierte, also vom Staat oder anderen Kostenträgern getragene Bereiche, die deshalb auf Dauer stabil sein werden. Die Kehrseite der Medaille ist natürlich, dass sich die Diakonie in gewisser Weise dem Staat und anderen Reglements ausliefert. Deshalb müssen wir das protestantische Profil bewusst im Blick behalten, schärfen oder gegebenenfalls schaffen. Die Gretchenfrage, was beispielsweise ein evangelisches Altenheim von einem städtischen unterscheidet, muss akzeptabel beantwortet werden können.

…die Diakonie versucht das ja mit „Willkommenstagen“ für neue Mitarbeitende….
Das sind erst zarte Anfänge. Bei den Willkommenstagen informieren wir unsere neuen Mitarbeiter über das besondere kirchliche Profil der diakonischen Arbeit. Allerdings spüre ich den sehr intensiven Willen in der Diakonie, da mehr zu tun. Mir ist es ein großes Anliegen, so etwas wie die Willkommenstage auch für bestehende Mitarbeitende in der Diakonie zu etablieren - als eine Chance für spirituelle Fortbildung und ein Briefing zu wichtigen kirchlichen Themen. Denn jeder und jede der fast 100.000 Mitarbeitenden in der Diakonie hat in der Regel jede Woche mindestens drei Kontakte, auch zu den Angehörigen ihrer Patienten, das sind dann mit 300.000 Begegnungen jeden Woche - Größenordnungen, wie wir sie sonst nur an den Weihnachtsgottesdiensten oder im Religionsunterricht erreichen. Bei den „Willkommenstage“ sollen die Mitarbeitenden auch ihre Kontakte untereinander auffrischen. Denn es ist wichtig, dass möglichst viele Mitarbeitende aus den verschiedensten Bereichen voneinander wissen und miteinander im Gespräch sind. Deshalb bin ich auch ein großer Freund eines Studiums, wo mehrere Fachrichtungen zunächst gemeinsam unterrichtet werden, man sich dann spezialisiert und schließlich wieder zusammenkommt.

Alle diese Vorhaben führen aber nicht zwangsläufig zu einer besseren Kooperation zwischen der einzelnen Kirchengemeinde und der Diakonie. Woran liegt diese Distanz?
Eine wesentliche Ursache ist die nötige Spezialisierung der Diakonie. Das können nur Fachleute leisten, die natürlich nicht alle in der Kirchengemeinde ihrer diakonischen Arbeitsstelle leben. Gemeinde und Mitarbeitende können sich nicht so einfach kennenlernen. So besteht die Gefahr, dass Gemeinde und Diakonie nebeneinander, statt miteinander, leben. Diakonische Einrichtungen müssen wieder verstärkt ins gemeindliche Bewusstsein rücken - und umgekehrt. Selbst ein Kirchenvorsteher, der einen Angehörigen in einem diakonischen Altenheim besucht, tut das häufig nicht in dem Bewusstsein, auch da im Bereich seiner Gemeinde unterwegs zu sein. Das ist auch der Grund, dass wir uns so schwer tun mit niederschwelligen Angeboten. Wenn beispielsweise ein bedürftiger Mensch an einer Pfarramts-Tür klingelt, bekommt er häufig einen Flyer mit höchstspezialisierten Beratungsadressen, dabei wollte er vielleicht nur eine kleine Hilfe oder menschliche Anteilnahme. Neben der natürlich notwendigen Spezialisierung brauchen wir ein kirchliches Netzwerk für den gesamten Sozialraum einer Gemeinde. Dafür muss es aber erst mal ein neues Bewusstsein, einen Paradigmenwechsel in unseren eigenen Reihen geben.

Wäre so ein Netzwerk auch für das Megathema Einsamkeit nötig, das vor allem durch Corona nochmals verstärkt worden ist?
Corona hat nach meiner Einschätzung nicht Einsamkeit erzeugt, sondern die bereits vorher angelegte Einsamkeit vieler Menschen überhaupt erst ins Blickfeld gerückt. Einfache praktische Rezepte gegen die wachsende Einsamkeit kann es nicht geben, weil das ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Obwohl der Mensch ursprünglich als Herdenwesen geschaffen wurde, hat sich er zu einem Einzelindividuum entwickelt und Vereinsamung geradezu gelernt, sicherlich in letzter Zeit noch verstärkt durch die neuen digitalen Kommunikationsformen. Die Sozialkompetenz wird immer kümmerlicher, es geht nur noch um das eigene Wohlbefinden, das eigene Glück, den eigenen Sinn des Lebens. Der flapsige Ausspruch „Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich“ ist geradezu zu einem Kernsatz der gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Das ist ein Riesenproblem für alle Organisationen, nicht nur für die Kirche.

Was kann die Kirche dann unter diesen Voraussetzungen überhaupt gegen die grassierende Einsamkeit unternehmen?
Wir sollten auch an diesem Punkt niederschwellig und mit einem Netzwerk beginnen. Gemeindemitglieder können sich in ihrem Umfeld um die Nachbarschaft kümmern und Nachbarschaftshilfe leisten. Das geschieht ja schon an vielen Orten. Es darf nicht sein, dass Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft monatelang tot in ihrer Wohnung liegen. Als Kirche muss es unsere Aufgabe sein, Vereinzelung und Vereinsamung in der Gemeinde aufzulösen, die Menschen zusammenzubringen - ohne Hemmschwellen, ohne Druck und ohne eine Erwartungshaltung an sie. Für die Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen bedeutet das, dass sie nicht nur die Tür zum Gemeindehaus offenhalten, sondern rausgehen, zu den Menschen hingehen und mehr zuhören als reden. Das ist nicht einfach, angesichts der unterschiedlichen Erwartungen an „die Kirche“ sich zu äußern und zu handeln - in dem Sinn, wie ich es unausgesprochen von ihr erwarte.

Könnten nicht auch Rahmenbedingungen gegen Einsamkeit und Vereinsamung helfen, etwa im Baubereich?
Ganz sicher! Ich finde beispielsweise die Überlegung einiger Bürgermeister von Kommunen im Münchner Speckgürtel weiterführend, die sagen, dass man keine normierten Reihenhäuser mehr bauen sollte, in denen dann die Familien abgeschirmt von Thuja-Hecken jede für sich wie in einer Wabe lebt. Entscheidend sind aber möglichst viele Kontaktflächen unter den Menschen. Die zu schaffen muss eine zentrale Aufgabe der Kirche sein - auch mit ihren eigenen Immobilien.

Eine lang etablierte Kontaktfläche zur Kirche ist immer noch der schulische Religionsunterricht.
Da will ich sofort ein weit verbreitetes und immer wieder transportiertes Missverständnis klarstellen, dass nämlich der Staat den Kirchen den Religionsunterricht gewährt und sie dabei unterstützt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Kirchen unterstützen den Staat bei seinem verfassungsmäßigen Auftrag der religiösen Bildung. Richtig ist aber natürlich, dass wir nach wie vor mit dem konfessionellen Religionsunterricht an den bayerischen Schulen 320.000 Kinder und Jugendliche wöchentlich erreichen. Für sie wollen wir einen guten und nachhaltigen Unterricht bieten, der ihnen auch über die Schulzeit hinaus nutzt. Diese Bedeutung des Religionsunterrichts schlägt sich auch in der neuen Landesstellenplanung nieder, in der 25 Prozent des Zeitbudgets der Pfarrerinnen und Pfarrer für diesen Unterricht vorgesehen sind. Damit sie sich - wie die anderen Lehrkräfte auch - gewissenhaft und professionell auf ihren Unterricht vorbereiten können und auch Teil der Schulfamilie mit intensivem Kontakt zu den anderen Lehrkräften und den Eltern sein können. Um den Unterricht weiter zu verbessern und für die Schüler noch passgenauer zu machen, haben wir das Großprojekt „KILS“ („Kirche im Lebensraum Schule“) auf den Weg gebracht, das auch eine Internetseite und die Schulseelsorge umfasst.

Warum hat denn der Religionsunterricht neben den anderen Fächern eine besondere Bedeutung?
Zum einen werden die Schülerinnen und Schüler sprachfähig über ihren Glauben. Das ist die Voraussetzung für den religiösen Dialog in einer multireligiösen Gesellschaft und kann helfen, Gräben zu überwinden. Nicht zuletzt trägt der konfessionelle Religionsunterricht zur Persönlichkeitsbildung, der sogenannten Herzensbildung bei, ist ausgehend vom christlichen Menschenbild ein Übungsfeld für Argumentation und Konfliktbewältigung, für Toleranz und ihre Grenzen, für die Frage, mit welchen Vorprägungen und Bildern sich Menschen gegenübertreten. Das kommt alles auch implizit in anderen Fächern vor, im Religionsunterricht ist es aber zentral im Lehrplan verankert.

Trotzdem ist der Religionsunterricht in der Diskussion, die Zahlen gehen zurück, ein flächendeckender Unterricht wird immer schwieriger.
Ich will gar nicht leugnen, dass gerade in Diasporagebieten hellgraue Flecken gibt, wenn zu wenige Schüler und Schülerinnen derselben Konfession da sind und die staatlichen Religionslehrkräfte immer häufiger in anderen Fächern eingesetzt werden. Deshalb haben wir das von katholischer und evangelischer Kirche getragene Projekt „RumeK“ („Religionsunterricht mit erweiterter Kooperation“) verlängert. Im Rahmen dieses Projekts kann zum Beispiel eine katholische Lehrkraft die wenigen evangelischen Schüler unterrichten - und umgekehrt. Dazu kommt dann immer blockweise eine Lehrkraft der jeweils anderen Konfession. Wegen der Corona-Pandemie konnten wir noch keine genaue Evaluation vornehmen. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts liegt ganz sicher in einer guten Kooperation mit der katholischen Kirche. Ich bin überzeugt, dass wir da zu guten, tragfähigen und zukunftsweisende Lösungen kommen werden.

 Aber selbst der beste Religionsunterricht endet spätestens mit der Schulzeit und danach gehen viele Jugendliche erstmal auf Distanz zur Kirche. Wie lassen sich diese biographischen Abbrüche überwinden?
 Mindestens bis zum Ende der Schulzeit muss der Same gesät sein, dass die Leute später wieder zur Kirche kommen. Wichtig dafür sind auch Konfi-Camps und Jugendfreizeiten, weil sich da ein Gemeinschaftsgefühl und soziales Lernen entwickelt, und zwar gut begleitet von gut ausgebildeten Jugendleitern - und damit mehr als ein schlichtes Gemeinschaftserlebnis auf dem Bolzplatz. Auf diesen gemeinsamen Freizeiten treffen die Jugendlichen auf Menschen, die authentisch und glaubwürdig von Gott reden. Der Geist Gottes weht, wo er will - manchmal auch dort, wo wir es in unseren kirchlichen Strukturen gar nicht eingeplant haben. Will sagen, wir müssen weg kommen von einer Beamtenkirche mit ihren Kontrollzwängen. Stattdessen müssen wir niederschwellige Netzwerke aufbauen und in die Beziehungsarbeit gehen, den Menschen gut zuhören und permanent nachsteuern. Wir müssen die Frage stellen, ob wir weiterhin eine Hauptamtlichenkirche sein sollen oder mehr zu einer Ehrenamtlichenkirche werden wollen. Bei neuen Ideen und Initiativen sollten wir nicht mehr warten, bis alles bis ins Letzte ausdiskutiert ist und jeder und jede beteiligt ist: es genügt für Neuanfänge auch eine kleinere Koalition der Willigen, die gerne und motivierend von ihren Ergebnissen erzählen. Kurzum, wir müssen zu einer wesentlich agileren Organisation werden.

Das epd-Gespräch führte der epd-Chefredakteur Achim Schmid.

14.09.2021
epd/Achim Schmid