Die Münchner Insel ist eine ökumenisch getragene Krisen- und Lebensberatungsstelle​. Ein Porträt aus 2014 von Axel Mölkner-Kappl.

Abschied von der Münchner Insel

"Das loszulassen ist nicht leicht"

Offen für alle, verschwiegen und anonym - dafür steht die Krisen- und Lebensberatungsstelle Münchner Insel. 15 Jahre lang war Tilmann Haberer evangelischer Leiter. Jetzt geht der Pfarrer in den Ruhestand. Ein Interview.

Herr Haberer, seit 2006 haben Sie die ökumenische Krisen- und Lebensberatungsstelle „Münchner Insel“ auf evangelischer Seite geleitet, jetzt gehen Sie in den Ruhestand – mit welchen Gefühlen verabschieden Sie sich? 

Tilmann Haberer: Es sind natürlich sehr gemischte Gefühle. Einerseits freue ich mich darauf, mehr Zeit zu haben oder besser: freier über meine Zeit verfügen zu können. Andererseits lasse ich eine Lebensphase hinter mir, in der ich sehr viel gelernt habe und in der ich – wie ich glaube – meine Gaben gut zur Entfaltung bringen konnte. Das loszulassen ist nicht nur leicht. So gehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Was ist das Besondere an der „Münchner Insel“? 

Tilmann Haberer: Es gibt fast keine andere Stelle, wo jemand einfach hinkommen kann, ohne vorab einen Termin vereinbaren zu müssen. In der Münchner Insel kann jeder Mensch einfach zur Tür hereinkommen und findet in aller Regel sofort eine kompetente Gesprächspartnerin oder -partner. Deswegen schmerzt es so, dass wir wegen der Pandemie seit mehr als einem Jahr die Tür nicht öffnen können. Außerdem muss hier niemand seinen Ausweis oder eine Gesundheitskarte vorweisen, wir fragen nicht mal nach dem Namen. Niemand erfährt, was hinter den Türen der Beratungszimmer gesprochen wird. Wir führen keine Aufzeichnungen – die Beratung ist kostenlos, vertraulich und auf Wunsch vollkommen anonym.

Mit welchen Fragen und Themen kommen die Menschen zu Ihnen?  

Tilmann Haberer: Die Münchner Insel ist, was ihr Name sagt: eine Krisen- und Lebensberatungsstelle. In jeglicher nur denkbaren Krise, mit jedem möglichen Lebensthema kann man hierher kommen. Wir sind nicht auf eine bestimmte Thematik spezialisiert, sondern nehmen wirklich alles auf, was die Menschen so mitbringen.

Tilmann  Haberer, Bild: © privat

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Tilmann Haberer

Pfarrerr und Buchautor, war von 2016 bis 2021 evangelischer Leiter der Krisen- und Lebensberatungsstelle Münchner Insel.

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15 Jahre sind eine lange Zeit. Was waren Höhepunkte und besondere Herausforderungen, während Sie die Insel geleitet haben? 

Tilmann Haberer: Besondere Herausforderungen waren zwei Umzüge – weil das Marienplatz-Untergeschoss umgebaut wurde, mussten wir mit der ganzen Beratungsstelle auf den Viktualienmarkt umziehen, für drei Jahre, und dann wieder zurück in die neuen Räume. Die Frage war: Werden die Menschen uns nach dem Umzug finden? Aber die Sorge war unbegründet – vom ersten Tag am neuen Ort an kamen so viele Ratsuchende wie eh und je.

Höhepunkte im Sinn von ganz besonderen Ereignissen könnte ich gar nicht nennen. Aber immer wieder kam es vor, dass mir das Gegenüber nach einem Gespräch mit Erleichterung in der Miene und wieder strahlenden Augen gesagt hat: „Vielen Dank, jetzt geht es mir schon besser!“ Jedes Gespräch, das zu einem solchen Ergebnis geführt hat, war für mich ein Höhepunkt.

Welche Begegnung werden Sie nie vergessen?

Tilmann Haberer: Es gab sehr viele bewegende Augenblicke in diesen 15 Jahren. Eine Situation werde ich aber wohl wirklich nie vergessen. Da kam ein junger Soldat, der mehrere Jahre Kampfeinsatz in Afghanistan hinter sich hatte, der Menschen töten musste und miterlebt hat, wie neben ihm sein bester Freund durch eine Gewehrkugel starb. Das alles hatte er weggesteckt, ohne große Gefühle zeigen zu können. Wieder in Deutschland verliebte er sich unsterblich in eine Frau – zum ersten Mal im Leben hatte er zarte, weiche Gefühle. Allein das war schon schwer zu ertragen. Dann aber wurde er von der Frau abgewiesen, und dieser Schmerz war für ihn viel schlimmer als alles, was er im Kampf je erlebt hatte. Er litt wie ein Tier. Dieser junge Mann – er hätte mein Sohn sein können – wird mir sicher noch lange im Gedächtnis bleiben.

Tilmann Haberer

Cover des Buches Tilmann Haberer: Von der Anmut der Welt

Von der Anmut der Welt

Gott - neu gedacht
Das Reden von Gott ist problematisch geworden, alte Gottesbilder tragen nicht mehr und viele Menschen wenden sich vom Christentum ab. Dem setzt dieses Buch Neues entgegen. Auf der Grundlage der integralen Theorie Ken Wilbers u.a. und des Buches »Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird« beschreibt Tilmann Haberer die zentralen Inhalte und Begriffe der christlichen Theologie – Gott, Christus, Mensch, Sünde, Erlösung, Auferstehung usw. – so, dass sie auch den Menschen des 21. Jahrhunderts etwas zu sagen haben.

Bestellinformation:

Gütersloher Verlagshaus
320 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-579-07171-8

Seit März 2021 befindet sich die ganze Gesellschaft in einer Ausnahmesituation. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf die Arbeit der Insel? 

Tilmann Haberer: Leider sehr starke. Wie schon erwähnt, dürfen wir aus Gründen der Arbeitssicherheit unsere Tür nicht öffnen, weil unsere Räume sehr klein sind und keine Fenster haben. Wir haben versucht, das Beste aus der Situation zu machen, und unsere Beratung auf Telefon und Video umgestellt. Und es hat sich herausgestellt, dass auch dieses veränderte Angebot angenommen wird. Wenn jemand anruft und nach einem Gesprächstermin fragt, bieten wir ihm an, jetzt gleich dieses Gespräch zu führen. Das nehmen viele Menschen sehr gerne an und sind erfreut und erleichtert, dass sie nicht erst tage- oder wochenlang warten müssen.

Wie stark wurde Ihr Angebot unter erschwerten Bedingungen nachgefragt? 

Tilmann Haberer: Die „zufälligen“ Begegnungen fielen ganz weg – dass jemand vorbeikommt, unsere Stelle wahrnimmt und spontan hereinkommt. Was zurückgegangen ist, ist somit die Zahl der Erstgespräche. Alles andere ist ziemlich gleich geblieben, die Zahlen haben sich kaum verändert.

Welche Themen standen im Vordergrund? 

Tilmann Haberer: Thematisch spielte die Pandemie nur in den ersten Wochen im März und April 2020 eine zentrale Rolle. Schon bald kamen die Menschen wieder mit ihren ganz „normalen“ Themen: Arbeitslosigkeit, Streit in der Familie, Vereinsamung, Liebeskummer, Depression und alles mögliche andere. Die Pandemie ist aber oft im Hintergrund zu spüren, wie ein Verstärker für die Probleme, manchmal gar wie eine Art Brandbeschleuniger.

Haben Sie schon Pläne für den Ruhestand? 

Tilmann Haberer: Was den Beruf angeht, möchte ich mich wirklich zur Ruhe setzen – also nicht hier und da und dort Gottesdienstvertretungen oder irgendwelche Ehrenämter übernehmen. Ich habe ein paar Ideen für weitere Buchprojekte, möchte mich meiner Gitarre widmen und mich so viel wie möglich in der Natur bewegen. Dass mir langweilig werden könnte, befürchte ich nicht.

Nächstes Jahr wird die Insel 50 Jahre alt – was wünschen Sie ihr zum Jubiläum? 

Tilmann Haberer: Mein dringendster Wunsch ist, dass die Insel das Jubiläum mit geöffneter Tür begehen kann. Und dann wünsche ich ihr, dass sie weiterhin für die Menschen in der Stadt da sein kann – mit offener Tür und offenen Ohren, offenem Herzen und wacher Präsenz für alle, die kommen. Denn das Konzept, das der Insel-Arbeit seit fast 50 Jahren zugrunde liegt, finde ich bis heute überzeugend.

14.06.2021
ELKB