Geschätzt 250 junge Frauen haben seit September 1987 ihre Ausbildung im „Atelier La Silhouette“ abgeschlossen.

Geschätzt 250 junge Frauen haben seit September 1987 ihre Ausbildung im „Atelier La Silhouette“ abgeschlossen.

Bild: ELKB

Berufsbezogene Jugendhilfe

„Manchmal braucht es eine zweite oder auch eine dritte Chance“

Die Berufsbezogene Jugendhilfe der Evangelischen Jugendsozialarbeit Bayern feiert ihr 50-jähriges Bestehen. Ein einzigartiges Beispiel der erfolgreichen Arbeit: Im Atelier La Silhouette werden junge Frauen zu Damen-Maßschneiderinnen ausgebildet.

Das Konzept des „Atelier La Silhouette“ in München ist deutschlandweit einzigartig: Neben dem fachlichen Wissen geht es darum, die Auszubildenden persönlich zu stärken. Die Liste der Auszeichnungen ist lang. Die der bewegenden Schicksale noch viel länger. 

In den Wintermonaten ihres ersten Lehrjahres schafft es Angel an den meisten Tagen nicht zur Arbeit. Körper und Seele der 21-Jährigen verbinden diese Zeit des Jahres mit traumatischen Erlebnissen: Vergewaltigung, Abtreibung, psychischer Zusammenbruch. An einen normalen Alltag ist nicht zu denken. In einem klassischen Ausbildungsbetrieb hätten die vielen Fehltage unweigerlich zur Kündigung geführt. Im „Atelier La Silhouette“ im Münchner Stadtteil Haidhausen ist das Team auf solche Situationen eingestellt und hilft den jungen Frauen durch schwere Phasen. 

Beim „Atelier La Silhouette“ handelt es sich um einen sozialen Ausbildungsbetrieb der Berufsbezogenen Jugendhilfe. Der Ansatz ist ganzheitlich: „Neben dem fachlichen Lernen geht es darum, die jungen Frauen persönlich zu stärken, damit sie stabil durchs Leben gehen können, selbstbewusst werden und ihren Platz in der Gesellschaft finden“, erklärt Geschäftsführerin und Sozialpädagogin Sonia Herlitze.  

Aktuell werden an der Pariser Straße 13 vierzehn junge Frauen zu Damen-Maßschneiderinnen ausgebildet. Sie alle gelten nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz als sozial benachteiligt – zum Beispiel, weil sie unter psychischen Belastungen leiden oder alleinerziehend sind. Finanziell und strukturell gefördert wird das “Atelier La Silhouette” von der Landeshauptstadt München und aus Mitteln der bayerischen Landeskirche über die Evangelische Jugendsozialarbeit (ejsa Bayern). 

Doppelt so viele Bewerbungen wie Plätze 
Die Nachfrage nach einem Ausbildungsplatz ist groß: Pro Lehrjahr werden im Schnitt fünf neue Auszubildende angenommen, mehr als doppelt so viele bewerben sich. Fast jede Woche schnuppern Praktikantinnen in den Betrieb. Auch Angel wollte hier unbedingt ihre Ausbildung machen. Für sie ist das „Atelier La Silhouette“ inzwischen weit mehr als eine Arbeitsstelle: „Es ist wie ein zweites zuhause für mich.“ Vieles läuft hier eben anders als in klassischen Ausbildungsbetrieben: Wer will, beginnt der Tag mit einem gemeinsamen Frühstück. Bei der Auswahl der neuen Auszubildenden werden alle in den Bewerbungsprozess mit einbezogen. Und nach Feierabend trifft man sich auch mal zu einer gemeinsam Sporteinheit. 

Geschätzt 250 junge Frauen haben seit September 1987 ihre Ausbildung im „Atelier La Silhouette“ abgeschlossen. Viele davon in der Regelzeit von drei Jahren, betont Sonia Herlitze. 90 Prozent der Gesellinnen finden danach eine Anstellung. So wie Vroni. Die 27-Jährige hat vor einem Jahr ihre Abschlussprüfung vor der Handwerkskammer bestanden und arbeitet nun in einem namhaften Geschäft der Bayerischen Schneidereigenossenschaft in München. „Ich wurde sehr gut auf die Zukunft vorbereitet“, sagt Vroni mit Blick auf ihre Zeit im „Atelier La Silhouette“. Psychische Belastungen hatten sie seinerzeit dazu bewogen, sich um einen Platz dort zu bewerben. Ihre erste Lehre musste sie abbrechen. Im „Atelier La Silhouette“ hielt sie durch, weil sie auch an schlechten Tagen Zeit und Unterstützung bekam, wie sie sagt. „Wahrscheinlich hätte ich eine Lehre in einem klassischen Ausbildungsbetrieb irgendwie geschafft“, sagt die Realschulabsolventin nachdenklich. „Aber zu welchem Preis? Am Ende wäre ich wahrscheinlich völlig ausgebrannt gewesen.“ 

Solche positiven Beispiele wie das von Vroni gibt es viele. Geschäftsführerin Sonia Herlitze erzählt von einer jungen Frau, die mit einem Mittelschabschluss ins „Atelier La Silhouette“ kam und mittlerweile erfolgreich Architektur studiert hat. „Manchmal braucht es eine zweite oder auch eine dritte Chance, bevor alte Verhaltensmuster abgelegt werden“, sagt Sonia Herlitze. Eine andere Ehemalige betreibt inzwischen ein Heim für obdachlose Kinder in ihrem Herkunftsland Äthiopien. „Sie sagt, dass ihr durch uns in ihrem Leben an entscheidender Stelle geholfen worden ist. Nun habe sie die Kraft und die Möglichkeit, das an anderer Stelle zurückzugeben.“ Manchmal engagieren sich Ehemalige auch im Trägerverein „Junge Frauen und Beruf“, andere kommen als Ausbilderinnen zurück.  

Zahlreiche Auszeichnungen  
Das Konzept ist in Deutschland einzigartig. „Jedenfalls wissen wir von keiner anderen Einrichtung, die unserer ähnlich ist“, sagt Sonia Herlitze. Dafür gab es schon etliche Auszeichnungen, unter anderem den Bayerischen Integrationspreis und den „Fit für Leben und Arbeit“-Preis des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zuletzt verlieh die Commerzbankstiftung den Preis „Zukunftswege“ an das „Atelier La Silhouette“. 

Die Werkstatt mit Ladengeschäft zieht die unterschiedlichsten Kundinnen an: Die Spanne reicht von der Kinderfaschingsprinzessin über modisch bewusste Damen aus Haidhausen bis hin zu einer ehemaligen evangelischen Stadtdekanin. Nachhaltigkeit liegt dem Team besonders am Herzen: Die Kundinnen können zum Beispiel mit drei verstaubten Kleidungsstücken ins „Atelier La Silhouette“ kommen - und die jungen Schneiderinnen zaubern daraus ein neues, maßgeschneidertes Outfit.  

Angel selbst trägt am Tag des Interviews ein Oberteil, das sie aus einem alten Sakko gefertigt hat. Eine ehemalige Hose mit Karottenschnitt hat sie in ein modisches Unikat mit weiten Hosenbeinen umgearbeitet. Ihre Zwischenprüfung hat die Abiturientin inzwischen erfolgreich gemeistert und auch psychisch geht es ihr besser. Sie ist selbstbewusster geworden und hat gelernt zu sagen, was sie will und was nicht. „Ich habe ein besseres Gefühl für meine eigene Identität bekommen.“ Noch ist ihr Selbstfindungsprozess nicht abgeschlossen. „Aber ich habe das Gefühl, auf einem guten Weg zu sein.“  

23.06.2025
Silke Scheder

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