Was die Veränderungen in den Kirchen treibt

Weniger Geld und weniger Personal

na 2024-1 Leseprobe

Dr. Steffen Bauer wirft in seinem Artikel einen Blick in die Zukunft der Kirche

Bild: ELKB

Keiner kennt die Reformprozesse, die in den Landeskirchen laufen, so gut wie Steffen Bauer. Denn viele Kirchenleitungen suchen seinen Rat, wenn es darum geht, kirchliche Arbeit und Strukturen an neue Herausforderungen anzupassen. Wir haben ihn gefragt, wo die Herausforderungen liegen, wie er die Reformfähigkeit der Kirche grundsätzlich einschätzt – und wie er die Rolle der Kirchenleitungen sieht. 

nachrichten: Herr Bauer, was sind die wichtigsten­ Herausforderungen, denen sich die Reformprozesse der evangelischen Kirchen stellen?

WENN DIE GESELLSCHAFT SICH ÄNDERT, MUSS SICH AUCH DIE KIRCHE ÄNDERN

Steffen Bauer: An erster Stelle sehe ich die Veränderungen in der Gesellschaft. In unserer Gesellschaft wird immer weniger von Gott und vom Glauben erzählt. Rituale, Gepflogenheiten, traditionelle Bindungen nehmen ab. Ich sage immer: Selbst wenn wir alles Geld und alles Personal und alle Gebäude behalten könnten, müssten wir uns als Kirche ändern, weil sich eben unsere Gesellschaft so verändert. Aber leider haben wir eben auch eine deutliche Abnahme unserer Gemeindemitglieder. Und das führt eben dazu, dass wir über weniger an Geld und an Personal verfügen. Das vor allem treibt die Veränderungen.

Gute Erfahrungen mit neuen Formen

nachrichten: Bei welchen Herausforderungen tun sich die Kirchen leichter, bei welchen schwerer?

Steffen Bauer:Die Landeskirche von Bayern, das wird jetzt vielleicht merkwürdig klingen, verfügt vergleichsweise noch über viel Geld. Ich behaupte, dass das wegbrechende ­Personal, ich sage nur Babyboomer, die Organisation Kirche vor ganz große Herausforderungen stellt. Gleichzeitig erlebe ich an vielen Orten Versuche, mit neuen Formen der Verkündigung, der Taufen, der Hochzeiten segensreich unterwegs zu sein und dass viele Menschen sich davon ansprechen lassen. Gerade in Bayern haben viele damit gute ­Erfahrungen gemacht, gesegnet und segnend unterwegs zu sein.

VERÄNDERN UND NEUES AUSPROBIEREN

nachrichten: Nun sind diese Herausforderungen, vielleicht abgesehen von der rapide nachlassenden Kirchenbindung, ja nicht neu. Warum geht man sie erst seit einigen Jahren an? Hätte man nicht vor zehn, 20 Jahren bessere Voraussetzungen für Veränderungen gehabt, u. a. mehr Geld, um in Umstrukturierungen zu investieren?

Steffen Bauer: Subjektiv ist das doch schon seit vielen Jahrzehnten geschehen. Ich bin seit 1988 im kirchlichen Dienst und habe immer schon gehört, dass wir sparen müssten, und wir haben doch auch schon immer versucht, an der ein oder anderen Stelle innovativ zu sein. Aber die Entwicklungen haben sich rasant beschleunigt. Ich nenne das Stichwort »Digitalisierung«. Und in allen Organisationen und vor allem Institutionen gibt es starke Beharrungskräfte, die auch durchaus Gutes bewirken. Auch Beständig- und Verlässlichkeit sind ja hohe Güter. Aber jetzt gilt es mehr denn je, beweglicher zu werden, das Alte nicht abzuschaffen, aber doch manches zu verändern und vor allem Neues auszuprobieren.

NEUES VERHÄLTNIS VON HAUPT- UND EHRENAMTLICHEN

nachrichten: Wie reformfähig schätzen Sie die evangelische Kirche grundsätzlich ein?

Steffen Bauer: Das hängt davon ab, in welcher Tiefe wir uns ändern müssen und wollen.
Ich glaube, dass wir ganz vieles verändern müssen an der Art, wie wir unsere Gotteserzählung weitergeben, wer sie wie weitergeben darf und soll. Sprich, ich hoffe, dass wir zu einem ganz anderen Verhältnis von Haupt- und Ehrenamt kommen werden und überhaupt ­Menschen und Gemeinden gabenorientiert zusammenarbeiten. Noch mal: Ich erlebe ganz viele Aufbrüche, die auf neue Art unsere Erzählung von Gott Menschen an ungewöhnlichen Orten zu ungewöhnlichen Zeiten in sehr unterschiedlichen Formen analog und digital nahebringen. Und oftmals werden diese Aufbrüche durch ein neues Zuhören ausgelöst. Auf die Erzählung Gottes, damit auch auf seinen Heiligen Geist neu hören und auf Menschen neu hören, davon wird viel abhängen.

MEHR MULTIPROFESSIONELLE TEAMS, ENTLASTUNG VON VERWALTUNGSTÄTIGKEITEN

nachrichten: Der Personalmangel macht auch vor den Kirchen nicht halt. Schon heute fehlt es an qualifiziertem Personal. Was muss die Kirche tun, um in ­Zukunft eine attraktive Arbeitgeberin zu sein? Und wie arbeiten die unterschiedlichen Reformprozesse darauf hin, dass die Kirche als Arbeitgeberin attraktiv bleibt oder wieder wird?

Steffen Bauer: Die Arbeit in der Kirche wird für alle Berufsgruppen mehr denn je Teamwork werden, und die Landeskirchen sagen das auch deutlich. Da geht es um die Einrichtung von multiprofessionellen Teams, die mehr denn je gabenorientiert arbeiten. Da geht es aber auch um die Entlastung von Verwaltungs­tätigkeiten. In fast allen Landeskirchen wird neben der absolut notwendigen Digitalisierung von Arbeitsprozessen danach gefragt, wie eine gute Verwaltung aussehen muss und kann, die Haupt- und Ehrenamtliche entlastet. Da wird auch über Assistenzen oder gar Geschäftsführungen in Gemeindeverbünden nachgedacht. Aber was es aus meiner Sicht auch dringend braucht und was ich noch viel zu wenig sehe, ist der Abbau von Genehmigungsvorbehalten und von Vorschriften.

OHNE REFORMEN NOCH SCHNELLERER BINDUNGSVERLUST

nachrichten: Nun hat der Soziologe Detlef Pollack unlängst sinngemäß geäußert, dass der ­Mitgliederschwund der Kirchen auch durch noch so intensive Bemühungen nicht aufzuhalten sei. Stimmen Sie ihm zu? Und falls ja – was bedeutet das für die laufenden Reformprozesse? Sind sie am Ende verschwendete Zeit und Mühe?

Steffen Bauer: Pollack sagt auch, dass, wenn die Kirche diese Reformprozesse nicht machen würde, noch mehr und schneller Bindungen zu Menschen abreißen würden. Das ist also wichtig. Auch ich vertrete die Ansicht, dass wir den Mitgliederschwund nicht entscheidend verändern können. Aber daran will ich unser Tun auch nicht messen. Gelingt es, Menschen die Erzählung Gottes in dieser Welt näherzubringen? Gelingt es uns, Menschen mit ihren Glaubens- und Gottesgeschichten Raum zu geben, viele mit-machen zu lassen? Gelingt es uns, im Gemeinwesen mit dafür Sorge zu tragen, dass es dort menschlich(er) zugeht? Das sind für mich entscheidende Fragestellungen, und die sind aller Mühe wert.

KIRCHENLEITUNGEN SOLLEN ERMÖGLICHEN

nachrichten: Was raten Sie den Reformverantwortlichen, wenn ihnen in den Mühen der Ebene die Motivation abhandenkommt?

Steffen Bauer: Dann sollen sie vor Ort Kirche wahrnehmen und schauen, was da alles an Ideen sprudelt, wie engagiert an so vielen Orten all das getan wird, was ich oben beschrieben habe. Das ist nämlich ansteckend und ermutigend. Lassen Sie es mich so sagen: Die entscheidenden Veränderungen geschehen vor Ort, Kirchenleitungen haben die Aufgabe, möglichst viel zu ermöglichen, zu unterstützen, erproben zu lassen. Die Vielfalt in unserer Kirche wird größer, weil die Verschiedenheit der Menschen größer wird. Das vor Ort wahrzunehmen ermutigt. Also: Fahrt dahin und lasst euch ermutigen.

MEHR EHRENAMTLICHE, MEHR DIGITAL

nachrichten: Wenn Sie in die Zukunft schauen: Wie schaut die evangelische Kirche in 20 Jahren aus? Was wird anders sein?

Steffen Bauer: 20 Jahre ist eine ganz, ganz lange Zeit. Gibt es da noch die Kirchensteuer, ­beamtenähnliche Arbeitsverhältnisse, Staatsleistungen, besonderes kirchliches Recht? Ich glaube eher nicht. Ich bin mir aber sehr sicher, dass in 20 Jahren Ehrenamtliche viel mehr gerade in der Verkündigung analog und digital tätig sein werden. Lebens-, Glaubens und Gotteserzählungen werden von ganz vielen geteilt werden. Wir werden ganz viele unterschiedliche Bilder von Kirche und unterschiedliche Bindungsformen leben.

nachrichten: Wenn Sie sich eine Kirche wünschen könnten – wie müsste man die sich vorstellen?

Steffen Bauer:Der von mir sehr verehrte Schweizer ­Theologe Karl Barth hat immer wieder beklagt, dass wir zu viel über Kirche reden würden, und empfahl: Lasst uns Kirche sein. Und je älter er wurde, desto neugieriger wurde er, Gott in Jesus Christus nicht nur in der Schrift und in den eigenen Kirchengebäuden zu entdecken, sondern an überraschenden Orten durch ungewöhnliche Menschen zu ungewohnten ­Zeiten. Solch eine Kirche, solche Menschen der Kirche wünsche ich mir: ausgehend vom eigenen Hören auf Gottes Geschichte voller Freude und Neugierde auf Menschen zuzugehen, auf deren Lebens-, Glaubens- und Gottesgeschichten zu hören, ins Gespräch zu kommen, sie machen zu lassen. Das strahlt aus, das wirkt, davon bin ich überzeugt.

Dr. Steffen Bauer leitet die Ehrenamtsakademie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Die Fragen stellte Michael Mädler.


04.03.2024 / C.L.