29 jahresbericht 2015 | 2016 das ist, was ich selbst mache, sondern gerechtigkeit ist etwas, was ich empfange von gott. das war für ihn der große durchbruch. und die voraussetzung für alles handeln. selge: ja, ich meine es in diesem sinn: passivität als gesteigerte wahrnehmung. ein satz wie picassos: „ich suche nicht, ich finde“, weist uns im ästhetischen wie im ethischen bereich auf eine disposition existentieller bereitschaft hin, die erst einmal nur spiegel ist, bevor gestaltung und veränderung einsetzen. bedford-strohm: „der mensch lebt nicht vom brot al- lein“ wäre vielleicht ein biblisches zitat, das dazu passt. und die spiritualität, das sammeln der inneren kraft, ist etwas, was vielleicht in unserem hektischen leben heu- te, das so durchökonomisiert ist, einfach zu kurz kommt. was aber, das nehme ich schon wahr, viele menschen auch neu entdecken. und für uns als kirche besteht die große herausforderung, dass wir wieder deutlich ma- chen, welche kraft diese tradition genau im hinblick auf diese frage hat. menschen suchen heute ja oft woanders als in der kirche nach diesen spirituellen quellen. redaktion: herr selge, als schauspieler haben sie ja das ganze leben lang immer auch nach einer gewissen transzendenz gesucht. denn wahre kunst weist ja nicht auf den menschen hin, sondern sie weist über ihn hinaus. jetzt, beim älterwerden, scheinen sie zurückzukeh- ren und sagen: „ich orientiere mich wieder hin zur religion, weil die mir etwas gibt, was kunst und kultur offensichtlich nicht zu schaffen vermochten.“ selge: wissen sie, das ist alles nicht so freiwillig. das sind alles dinge, die passieren. es gibt in dem text von houellebecqs „unterwerfung“ den satz, die idee der göttlichkeit christi sei der grundirrtum gewesen, der un- ausweichlich zum humanismus und zu den menschen- rechten geführt habe. der das sagt, der spielt praktisch das christliche mittelalter aus gegen die aufklärung. und an diesem punkt hat sich bei mir widerspruch gemeldet. es ist doch toll, dass die göttlichkeit christi zwangsläufig zu den menschenrechten und zum humanismus geführt hat und immer noch führt! das ist doch nicht gegen- einander aufzurechnen, sondern das gehört zusammen. redaktion: aber houellebecq ist dann doch ziemlich pessimistisch … selge: ... er ist ja, gott sei dank, kein prediger. und er beabsichtigt auch kein moralisches credo, denn jedes kunstwerk würde einen verkehrten weg gehen, wenn es moralische zwecke hätte. es hat moralische folgen, wie goethe gesagt hat, aber dem künstler moralische zwecke zu unterstellen, hieße, ihm „sein handwerk ver- derben". redaktion: mich interessiert in diesem zusam- menhang natürlich auch ihre schauspielkarri- ere. da gibt es ja viele parallelen zur kirche: ihnen beiden steht eine bühne zur verfügung, sie haben eine message, sie beide leben in ei- ner welt der inszenierung ... selge: ... na ja, mit dem begriff message wäre ich vor- sichtig. aber kirche und theater sind eben orte der be- gegnung. orte, wo öffentlichkeit hergestellt wird, wo es um die auseinandersetzung mit texten geht, wo der mensch in seiner widersprüchlichkeit unerschöpfliches thema ist. bedford-strohm: ja, und das leben steht im zentrum. und zwar in seinen manchmal sehr extremen äußerun- gen. ein theaterstück, wenn es ein gutes ist, sagt uns viel über die realität des lebens. ob das jetzt das per- sönliche leben ist, ob die abgründe der persönlichen existenz zum thema werden, oder ob es, wie jetzt bei edgar selge, auch einen zeitbezug hat im hinblick auf die welt insgesamt. gerade der christliche glaube ist ja eine bewegung in die welt hinein, nicht irgendwie in eine ferne, spirituelle welt. und wer wirklich zu seinem ziel kommen soll, muss etwas vom leben wissen. und so sind theater und kirche orte, an denen man unheimlich viel über das leben erfahren kann. „theater und kirche sind orte, an denen man unheimlich viel über das leben erfahren kann.“ landesbischof heinrich bedford-strohm