Ein Kompass

In welche Richtung es gehen soll in Sachen Spiritualität, entscheidet jeder für sich selbst.

Bild: Ahmed Zayan / Unsplash

Spiritualität - Tipps für Einsteiger

Wie fang ich's an?

Ich würde ja gern bewusster leben, aber wie? Ich würde ja gern Gott begegnen, aber wo? Hier ein paar Tipps für den Anfang.

Viele Vorhaben in meinem Leben beginne ich ganz bewusst und geplant: Ich setze mir Ziele und gebe mir Regeln Ich überlege, wie ich meinem Ziel näher kommen kann. Das ist auch hier so, aber zugleich auch ganz anders. Denn: Indem ich beginne, über meinen Weg mit Gott nachzudenken, komme ich auf die Spur, dass Gottes Weg mit mir vielleicht - ja: sogar sicher - schon viel länger ist als mein Weg mit ihm… Gott hat mit mir begonnen, lange bevor ich mich dazu entschließe. Ein Anfang ist längst gemacht. Für manche wird dieser Anfang anschaulich vor allem in ihrer Taufe, für andere im Bewusstwerden, ein Geschöpf Gottes zu sein, Leben inmitten von Leben: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer).

Das bedeutet zugleich: Ich muss mich dazu überhaupt nicht von mir selbst distanzieren oder mich in irgendwelche „höhere Sphären“ begeben, oder gar krampfhaft „frömmer“ oder „besser“ werden, als ich bin! Nein: Es reicht, wenn ich ICH bin. Nach einer alten jüdischen Weisheit wird man einst im Gericht nicht gefragt, warum man nicht Mose oder Salomo gewesen sei, sondern höchstens: Warum bist du nicht DU gewesen? Der Kirchenvater Bernhard von Clairvaux brachte es auf die Formel: „Du brauchst deinem Gott nur bis zu Dir selbst entgegen zu gehen.“

So braucht es zu Beginn nicht mehr als die Sehnsucht danach, eine Sehnsucht, die nach der Dichterin Nelly Sachs, „aller Wandlung Anfang“ ist.

Folgende Ratschläge mögen den Anfang erleichtern:

Ohne dass ich etwas dazu tue, atme ich. Tag und Nacht, immer. Ein Anfang könnte sein: meinem Atem zu folgen, ihn kommen und ihn gehen zu lassen, bewusst und dankbar. Dann vielleicht in Gedanken dabei ein Wort zu wiederholen, z.B.: „Ich in dir“ (beim Ausatmen) – du in mir“ (beim Einatmen) oder „Jesus -- Christus“. Das ist ein einfaches, ganz grundlegendes Element der Meditation.

Ich gönne mir jeden Tag eine stille Zeit und bleibe ihr treu: Ein fester Ort und eine feste Zeit – z.B. vor dem Frühstück oder kurz vor dem Schlafengehen, helfen, bei der Stange zu bleiben. Freilich werde ich so eine „freie Zeit“ auch immer wieder verteidigen müssen gegen andere Ansprüche. Mit zunehmender Gewöhnung jedoch wird diese Zeit zu einem festen, lieb gewordenen Termin im Tagesablauf. Nicht von ungefähr vergleichen Meister der Meditation die Seele mit der Oberfläche eines Teiches. Die vom Alltag bewegten Wasser müssen sich erst glätten, damit der Mensch sich darin erkennen kann…

Wenn die Zeit manchmal knapp ist - jeder Ort und jeder Augenblick kann für mich eine spirituelle Erfahrung bereithalten und zu einer „erfüllten Zeit“ werden. Auch in „Leerzeiten“, beim Abwaschen oder beim Warten an der Haltestelle, kann ich dem Atem lauschen, das Hören üben, an einen Mitmenschen denken, ein Gebet sprechen…

Die Erfahrung ist mir vom Freizeitsport her eigentlich bekannt: Allzu leicht setze ich mir die Ziele zu hoch. Wenn ich dann scheitere, gebe ich alles wieder auf. Deshalb gilt auch in der Spiritualität die Regel: Überfordere Dich bloß nicht! Beginne bescheiden. Wenn Du nur wenig Zeit aufbringen kannst, dann fange mit diesem Wenigen an….! Auch das Wenige kann schon reiche Frucht tragen…

Viele Menschen teilen mit mir die Erfahrung, dass manchmal „nichts geht“; dass ich mich immer wieder so leicht ablenken lasse von Gedanken und Alltagssorgen. Deshalb möchte ich nachsichtig mit mir sein. Wie gut: Ich darf immer wieder neu anfangen. Und die immer wieder störenden Gedanken lasse ich friedlich dahinziehen wie Wolken am Himmel…

Was hat diese oder jene Erfahrung, die ich mache, zu bedeuten? Gerade zu Beginn stellen sich oft viele Fragen. Es gibt das Angebot geistlicher Begleiter und Begleiterinnen, die mir zuhören und ein Stück Wegs mit mir gehen. Warum trete ich auf der Stelle? Warum spüre ich so wenig? Geistlichen Begleiterinnen und Begleitern sind solche Empfindungen aus eigener Erfahrung vertraut. Über einen vereinbarten Zeitraum hinweg können sie mir in Einzelgesprächen dabei helfen, meinen eigenen geistlichen Weg zu finden und zu gehen. Auch bei den Exerzitien im Alltag oder in einer Meditationsgruppe können solche Erfahrungen mit weiteren Menschen ausgetauscht und vertieft werden durch weitere Übungsformen des Glaubens.

Viele Orte – Klöster, manche Kirchengemeinden und die beiden spirituellen Zentren in Bayern – bieten Stille Zeiten oder Einführungskurse in die Meditation, was oft in der Kirchengemeinde in dieser Intensität und Konzentration nicht möglich ist. Viele kommen mit solchen vertiefenden Erfahrungen, die sie  in den spirituellen Zentren gemacht haben, dann reich beschenkt zurück in ihre Gemeinde und in ihren Alltag…

Als Kind war das Zubinden meiner Schnürsenkel eine anstrengende Aufgabe, die meine volle Konzentration erforderte. Inzwischen geht das ohne hinzuschauen… Auch der Glaube bedarf einer Einübung. Wie ein Instrument oder eine Sportart braucht auch meine Spiritualität regelmäßige Übung und sorgfältige Pflege. Ohne Enttäuschungen und Rückschläge wird es dabei vielleicht nicht abgehen. In jedem Fall bedarf es eines langen Atems. Mein Glaube kann wachsen und erwachsen werden -- wie ein Kind, das beim Laufenlernen zu Beginn immer wieder hinfällt, bis es dann frei stehen und auf eigenen Füßen gehen kann… Und auf alle Mühe folgt die Einlösung des Versprechens: „Es liegt im Stillesein eine wunderbare Kraft der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche.“ (Dietrich Bonhoeffer)

Es beginnt dann mit scheinbar ganz unspektakulären Erfahrungen und Vorhaben: Zum Beispiel nehme ich mir Zeit und lasse ich mich vom Glockengeläut einer Kirche einhüllen...

Oder ich versuche, zu Hause, beim Spazierengehen oder an der Bushaltestelle, einmal bewusst auf die je leiseren Töne um mich herum zu lauschen. Was höre ich hinter all dem Tumult des Alltagslärms…? Die Theologin Dorothée Sölle sprach von dem „Stillen Geschrei“…

Oder ich wecke bei einem Spazierengehen einmal alle meine Sinne und gebe jedem einzelnen meiner Sinne ganz viel Raum: Was sehe ich alles? Was rieche ich? Höre, spüre, taste, vielleicht sogar schmecke ich…? „Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat, denen, die ihn lieben.“ (1. Korintherbrief 2,9).

Oder ich schreibe mir ein Bibelwort, das mir wichtig ist, auf einen Zettel. Ich trage diesen Zettel bei mir, fühle ihn, lerne ihn mit der Zeit inwendig und auswendig kennen… auf Englisch: to learn by heart.

Oder ich unterbreche meinen Weg und setze mich in eine  offene Kirche. Ein einfacher Bauer antwortete einmal auf die Frage, warum er so lange Zeit allein in der Kirche sitze: „Ich sehe Gott an, und er sieht mich an.“

Klein anfangen

Manchem wird das alles zunächst banal vorkommen, zu geringfügig, zu klein. Aber schon der Kirchenvater Augustin sagte: „Gott ist im Kleinen der Größte“. Und wenn ich immer wieder das Gefühl habe, zu wenig Zeit dafür zu haben, dann beherzige ich die Regel spiritueller Lehrer: „Wenn Du nur wenig Zeit aufbringen kannst, dann fange mit diesem Wenigen an….!

22.12.2020
Anne Lüters

Mehr zum Thema

weitere Informationen zum Artikel als Downloads oder Links

Literaturtipp

Cover des Buches Richard Rohr: Geheimnis und Gnade Stationen einer spirituellen Reise, Claudius Verlag
Link zum Buch

Richard Rohr

Geheimnis und Gnade Stationen einer spirituellen Reise, Claudius Verlag

Richard Rohrs wichtigste, schönste und bislang unveröffentlichte Texte zum Nachlesen, Vertiefen und Neu-Entdecken. Seine Werke haben unzähligen Menschen zu innerer Heilung und spirituellem Wachstum verholfen. Dieses Buch versammelt die Themen des Franziskanerpaters, die ihm besonders am Herzen liegen: Innere Verwandlung, Mystik und Kontemplation, die Überwindung zerstörerischer denk- und Handlungsmuster und die befreiende Botschaft Jesu. 
  • ISBN: 978-3-532-62808-9